Vorwort
Es gibt so viele Bücher von Psychologen, Hirnforschern oder Psychiatern, die Wissenschaft betreiben und auch Populärwissenschaftliches für Laien schreiben. Bei der Masse alleine, die dort erscheint, können wir mit unserem Buch kaum was entgegensetzen, so war unser erstes Gefühl. Aber wir hatten ja schon Erfahrung mit den inzwischen 15 Ausgaben unserer Vereinszeitung Avocado. So haben wir uns auf unsere selbst gesetzte Aufgabe konzentriert und einfach geschrieben, was uns berührt. Fünf Jahre haben wir bis zur Fertigstellung dieses Buches gebraucht. Wir haben Texte gesammelt und versucht Menschen zu motivieren etwas zu schreiben und immer wieder darüber nachgedacht, was hier relevant und interessant sein könnte.
Wir verarbeiten hier auch unsere Diskussion im Verein, die seit 11 Jahren immer wieder auf das Thema psychische Krankheiten zurückkommt. Stellenweise sind wir selber von dem Thema genervt. Warum können wir nicht einfach unsere Lebensqualität leben? Wir sind doch nicht ständig im Ausnahmezustand. So haben wir auch die Hoffnung, dass wir mit unserem Buch hier teilweise einen Abschluss finden.
Die Wirklichkeit psychischer Krankheiten:
Wer die Krankheiten ausgrenzt, grenzt auch Wirklichkeit aus. Wir haben nicht nur Krankheitserlebnisse, die verarbeitet werden wollen, sondern auch Erfahrungswerte, die weiter führen können in Richtung Lebensqualität und Wirklichkeitsverständnis. Der Schwerpunkt in unserem Buchtitel liegt mehr auf Wirklichkeit, weniger auf psychischer Erkrankung. Was ist die Wirklichkeit? Wir machen uns auf den Weg, mitten ins Leben hinein.
Subjektivität als Maßgabe und Menschenrecht:
Wer ist wirklich leistungsfähig, wer schafft finanzielle Werte, wer hat gute soziale Kompetenzen, wer ist wertvoll für Kultur und Gesellschaft? Das sind nicht unsere Fragen. Wie es dem Menschen selber dabei geht, ist uns zunächst mal wichtiger. Die subjektive Seite ist einfach näher dran an der eigentlichen Existenz. Warum ist Subjektivität so wichtig für uns? Was ist ein Subjekt, was ist das Innere des Menschen überhaupt? Wie funktioniert der Mensch, wie funktioniert das Bewusstsein? Wir sprechen von unseren Erfahrungswerten, in denen subjektives Erleben zentral ist. Die eigene Erfahrung, wie es der Seele selber geht, und die weiteren Konsequenzen daraus beschäftigen uns mehr als alles andere.
Die Ignoranz der Subjektivität des Menschen scheint die zentrale Ursache der Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts zu sein. Wenn Menschen als reine Objekte behandelt werden, die nur materielle und finanzielle Werte zu erarbeiten haben, ohne dass es wirklich interessiert, wie es ihnen selber dabei geht, bleiben nicht nur psychisch Kranke auf der Strecke. Die Staatsmacht im Nationalsozialismus und im Kommunismus richtete nicht nur Schäden bei den leistungsschwachen Menschen an, sondern war insgesamt eine Katastrophe für Mensch und Natur. Auch in den Auswüchsen der aktuellen Leistungsgesellschaft ist das Thema der Ignoranz des Innenlebens und die daraus folgende Ausbeutung noch nicht vom Tisch.
Psychische Krankheiten treffen mitten ins Leben, sind verflochten mit dem Beziehungsleben, dem Arbeitsleben, mit den Zuständen der Gesellschaft, mit Religion, Philosophie und Wissenschaft. Zusätzlich hat jeder Mensch seine eigene Biografie und Geschichte. Da haben wir ein weites Feld zu bearbeiten.
Krisen erfordern oft Klinikaufenthalte, und neben ihrer Krankheit leiden die Patienten dort auch noch an den unbefriedigenden Zuständen, die sich nur langsam über die Jahre bessern. Immer wieder sind bei uns Leute, die gerade in der Klinik waren. Diese bringen ihre aktuellen Erfahrungen mit, und die alten Probleme, die aus den Missständen dort resultieren, scheinen sich kaum zu bessern, obwohl sie seit Jahren bzw. seit Jahrzehnten bekannt sind. Also schreiben wir sie in unserem Buch auch nochmal auf.
Die Würde des Menschen ist unantastbar, steht im Grundgesetz. Was heißt das eigentlich? Die Würde, die man sich selbst zugesteht und die man fühlt, ist nicht unbedingt dieselbe, die jemand anderes einem zugesteht. Das kann man nicht mal eben per Gesetz ändern. Wenn mich mein Nachbar für einen bekloppten Schmarotzer hält, und er mich nicht konkret beleidigt, kann ich von Rechts wegen nichts dagegen machen, schließlich sind die Gedanken frei. Einen Krankenpfleger, der sich respektlos gegenüber seinen Patienten verhält, kann man noch entlassen, aber wenn der sein eigentlich vernichtendes Urteil über seine Patienten genügend versteckt, wird das schon schwieriger.
Die finstere Geschichte der Psychiatrie mit ihrer Vorstellung vom unwerten Leben ist auch eine Geschichte des Menschenbildes. Den Menschen nur an seiner Nützlichkeit für die Gesellschaft zu messen, ist schon brutal. Den Menschen nur an seiner Fähigkeit zur Vernunft zu messen, ist subtiler, aber für uns psychisch Kranke ebenso vernichtend. Nicht, dass hier nur ein Gefühl beschädigt wird. Uns können auch rechtliche Konsequenzen drohen, wenn uns die Vernunft abgesprochen wird. Zwangsunterbringung, Zwangsmedikation und Fixierung gehört immer noch zum klinischen Alltag. Der Ausnahmezustand in der Krise wird schnell zum rechtsfesten Dauerzustand.
Das Menschenbild eines jeden Menschen ist ziemlich resistent und meistens nicht diskutabel. Hier kann man auf neue Generationen von Professionellen hoffen, aber auch die Menschen fördern und ermuntern, die heute schon näher an der Wirklichkeit dran sind und richtig gute Arbeit machen. Eine einfache Fortbildung für die psychiatrischen Krankenpfleger, in denen gelehrt wird, wie man psychisch Kranke respektiert, und wie man auch mit Menschen noch reden kann, die realitätsmäßig noch ziemlich verrückt sind, würde vermutlich Wunder wirken. Das subjektive Erleben und die individuelle Biografie sollte mit in die Behandlung einfließen.
Aber wir wollen auch unsere Erfahrungen aus der Selbsthilfe ausführen. Wir können ja an unserem Selbstbild und an unserem eigenen Menschenbild arbeiten. Das Menschenbild meines Psychiaters ist nicht meins, und muss das auch nicht. Professionelle haben nicht unsere Krankheit. Wie wir mit Wahnsinn umgehen, wie wir den Wahnsinn verarbeiten und wie wir in die Realität zurückfinden, das ist unser eigener Erfahrungsschatz. Wenn wir uns selbst nicht nur an unserer Leistung messen, haben wir auch die Basis, die wir brauchen, um uns gegenseitig zu unterstützen.
Wie wir mit der Situation fernab des 1. Arbeitsmarktes klarkommen und darin sogar eine gute Perspektive finden, liegt in unseren Ressourcen, und wenn wir Glück haben sogar in unserer eigenen Macht. Wir müssen nicht auf die Professionellen warten und auch nicht auf den Staat. Wir haben gelernt, uns selbst interessante Aufgaben zu geben, und haben ein Miteinander kultiviert, das gut tut. Unsere Praxis ist hier Realität, die funktioniert, oder auch mal nicht. Versuch macht auch klug.
Visionen und Hoffnungen sind ein ganz wesentlicher Teil psychischer Realität. Der Genuss des Lebens braucht nicht immer schon Tatsachen. Träume sind selber schon mindestens die Hälfte.
Ist das Wissenschaft, was wir schreiben? Nein, ist das nicht. Aber trotzdem relevant. Man kann nicht immer warten, bis etwas zweifelsfrei bewiesen ist. Wir müssen jetzt leben und mit den Mutmaßungen arbeiten, die vorhanden sind. Viele Erfahrungen verändern die Sichtweise und stellen die Wissenschaft teilweise in Frage. Wenn man mit Erfahrungen leben muss, die es offiziell nicht geben kann, hilft hier die Wissenschaft nicht weiter.
Was bringt die Zukunft? Wir wollen zum Dialog auffordern. Erkenntnisse, die heute noch stimmen, sind morgen überholt. Die Fragen von gestern sind heute nicht mehr relevant. Wir dürfen nicht aufhören, uns die richtigen Fragen zu stellen, damit wir in der Psychiatrielandschaft als Betroffene nicht untergehen. Wir müssen der Erstarrung des Systems geduldig und ausdauernd entgegen wirken, auch wenn sich nur wenig bewegt und es jahrelang so aussieht, dass sowieso nichts passiert.
Stigmatisierung und Ausgrenzung gehören immer noch zum Alltag. Selbstwertgefühl, Selbstständigkeit und die Erfahrung der eigenen
Wirksamkeit sind keine leeren Vokabeln, sondern für ein gutes Leben wirklich förderlich. Auch wenn uns so viele Stolpersteine in den Weg gelegt werden, soll das nicht dazu führen, dass wir auch noch unser eigenes Menschenrecht auf unser subjektives Leben verleugnen.
(Tobias Jeckenburger, Heidi Waldstädt)
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