www.introspektiva.de - Tobias Jeckenburger: Die Reise des Kosmos - Online-Diskussion - KLuW e.V.: Die Wirklichkeit psychischer Krankheiten

Normale Langzeitarbeitslose können von unserer Unterstützung und Narrenfreiheit nur träumen (T.J.)


Psychisch krank bedeutet meistens auch langzeitarbeitslos. Arbeit als Beschäftigung, Lebensunterhalt, Sinnstiftung und als Weg, die Welt und das Leben kennenzulernen, ist ein zentrales Element im modernen Leben. Wenn man da raus fällt, hat man meistens ein dickes Problem. Mir scheint es sogar, das sich viele Krankengeschichten im Laufe der Jahre immer mehr in das ganz normale Langzeitarbeitslosenproblem verwandeln.

Es fängt morgens mit dem Aufstehen an: zu viel Schlaf macht träge und manchmal sogar depressiv. Keine Action, auf die man sich freuen kann, kein Ziel, das die Zeit ausfüllt. Die Hausarbeit bleibt oft liegen, weil man es nicht mehr gewohnt ist, Sachen zu machen, auf die man keine Lust hat. Die sozialen Kontakte werden weniger, weil man wenig zu erzählen hat. Viele Verwandte und alte Freunde wollen mit Nichtsnutzen nichts mehr zu tun haben. Es wird schwieriger, einen Sinn im Leben zu sehen, viele fühlen sich schuldig, nichts für die Gemeinschaft zu tun. Abends dann zu viel fernsehen oder rumgeklimpere am Computer, so hört der Tag dann so unangenehm auf, wie er angefangen hat.

Über die Jahre hinweg sammelt sich immer mehr Sinnlosigkeit an, Altersdemenz tritt häufiger und früher ein. Durch mangelnde körperliche Betätigung leidet die Gesundheit über die vielen Jahre extrem. Das kann 10 bis 15 Jahre an Lebenszeit kosten. Durch mangelndes Training ist schon nach 5 Jahren nicht mehr die Leistungsfähigkeit vorhanden, um eine Chance auf dem 1. Arbeitsmarkt zu haben. Leistungsfähigkeit braucht man zusätzlich auch, um Lebenskrisen zu bewältigen. Die Anfälligkeit für weitere psychische Störungen und Krankheiten erhöht sich um ein Vielfaches.

Als psychisch Kranker mit definierter Diagnose hat man Anspruch auf Kontaktstellen, Tagesstätten, Behindertenwerkstätten und auf Maßnahmen zur Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt. So kann man die Auswirkungen des Langzeitarbeitslosendaseins zumindest deutlich entschärfen. Der normale Langzeitarbeitslose hat da weniger Möglichkeiten. Dazu kommt noch, dass man ihn ständig überall darauf hinweist, das er selbst Schuld ist an seiner Situation. Als psychisch Kranker hört man das nur selten. Krankheiten gelten meist als unverschuldet, mangelnde Arbeitsfähigkeiten gelten als verschuldet.

Die Probleme, die das aktuelle Wirtschaftssystem auf dem Arbeitsmarkt verursacht, werden einfach den Menschen angehängt, die nicht mehr mithalten können. Bei uns psychisch Kranken packt man es einfach auf die bestehenden Diagnosen drauf, aber wenigstens mit dem Ergebnis, dass wir eine Extraunterstützung erhalten können. Der normale Langzeitarbeitslose wird einfach selbst zum Problem erklärt und über Jahrzehnte ständig nur hin und her geschoben.

Manche psychisch Kranke schaffen es auch, sich selbst eine Beschäftigung auf Zuverdienstbasis aufzubauen, und kommen auf diese Art wieder einigermaßen ins Leben zurück. Wir bekommen meist EU-Rente oder Grundsicherung, da kann man langfristig planen. Der normale Langzeitarbeitslose muss dagegen ständig mit Maßnahmen vom Arbeitsamt rechnen, und hat es viel schwieriger, sich selbst eine Beschäftigung außerhalb des 1. Arbeitsmarktes aufzubauen, und so ein tätiges Leben zu führen und wenigstens die vielen Vorteile zu genießen, die Arbeit neben einem Einkommen noch zu bieten hat.

Dass bezahlte Arbeit überhaupt diese zentrale Rolle im modernen Leben spielt, ist hier der eigentliche gesellschaftliche Skandal. Irgendwie schaffen es Schule, Arbeitsamt, Politik und Presse, uns Menschen so abhängig von einem Job, von dem man leben kann, zu machen, das wir daran zugrunde gehen können, wenn aus der Karriere trotz jahrzehntelanger Vorbereitung dann nichts wird. Das Leben bietet eigentlich reichlich Möglichkeiten, sich gut zu beschäftigen, wenn man den Anspruch aufgibt, seinen kompletten Lebensunterhalt damit zu verdienen.

Die natürliche Lösung ist es, sich mit allerlei Kunsthandwerk, mit aufwändig hergestellter Kleidung und selbst hergestelltem Schmuck zu beschäftigen, sowie reichlich Feste und Rituale zu feiern. Steinzeitkulturen verbringen hiermit den Großteil ihrer Zeit, solange sie genug zu Essen haben. 1500 Jahre Feudalherrschaft in Europa haben dieses natürliche Arbeitsbeschaffungsverhalten anscheinend gründlich ausgerottet. Und auch der moderne Staat gibt sich viel Mühe, die Leute weiterhin zur Leistung zu treiben.

Dabei wird die Leistungsfähigkeit selbst zu einem tödlichen Problem, wenn diese geballte Arbeitswut mit moderner Technik kombiniert wird. Auch bei Umweltzerstörung und Ressourcenverbrauch durch übermäßigen Konsum oder durch Kriegstätigkeit multipliziert sich die Leistungsfähigkeit der Menschen mit der zur Verfügung stehenden Technik.

Was man so alles machen kann, um sich an diesem Leistungsanspruch vorbei gut zu beschäftigen, zeigen viele alternative Projekte und individuelle Lösungen:

Kleine Schneiderwerkstatt neben der EU-Rente.
Regelmäßig privat organisierte Skat, Poker oder Doppelkopfrunden.
Musizieren, malen, texten, philosophieren.
VHS-Kurse besuchen, oder auch Kurse geben.
Um Menschen kümmern, im Altenheim oder in der Suppenküche.
Sich gegenseitig bei Umzügen und Renovierungen helfen.
Rausgehen und sich mit der stadtnahen Natur beschäftigen.
Kräuter und Früchte sammeln, billig, aber gut kochen und sich gegenseitig zum Essen einladen, öfter mal gemeinsam Grillen.
Gartengestaltung, Gemüse und Tabakanbau.
Weggeworfene Lebensmittel einsammeln und verwerten.
Lernen, Geld effektiv einzusetzen.
Mit kleinen Druckauflagen und mit Webseiten aus seinem Leben erzählen.

Als psychisch Kranker hat man hier mehr Möglichkeiten, weil man viele organisierte Angebote wie Tagesstätten nutzen kann, um seine Leistungsfähigkeit zu erhalten und wieder aufzubauen. Ist man wieder fit genug, hat man als EU-Rentner oder Grundsicherungsempfänger genug Planungssicherheit, um sich langfristig außerhalb des allgemeinen Leistungsbetriebs eine richtig gute Beschäftigung aufzubauen. Wenn einem das nicht liegt, kann man immer noch dauerhaft in eine Behindertenwerkstatt gehen und hoffen, da in Ruhe arbeiten zu können.

Arbeit dient nicht nur dem Lebensunterhalt, sondern insgesamt mehr noch als Beschäftigung, Sinnstiftung und als Weg, die Welt und das Leben kennenzulernen. Außerdem kann Arbeit jede Menge Miteinander mit sich bringen, auf das wir Menschen als soziale Wesen meistens sehr positiv reagieren. Wenn man nur den Lebensunterhalt mit seiner Arbeit nicht bestreiten kann, ist es töricht, gar nichts mehr zu tun und so auf die anderen Vorteile einer Arbeitstätigkeit zu verzichten. Hier ist auch jeder selbst gefordert, sich eine Beschäftigung jenseits des Gelderwerbs zu suchen, aber der Staat und der Psychiatriebetrieb könnten hier die Menschen dabei mehr unterstützen.
(Tobias Jeckenburger)