Werkstatt – mögliche Utopien und ein Blick auf die Wirklichkeit (K.H.)
Tobias fragte mich, ob ich einen Beitrag für dieses Buch schreiben könnte. Über unsere Werkstatt. Was sie macht und ist für Menschen, die psychisch krank sind. Das fand ich langweilig und fragte: Könnte es auch darüber sein, wie ich es mir wünsche? Und wie lang darf es denn sein? So lang du willst, und auch über deine Wünsche wäre OK. Nun habe ich also Freiheit – das könnte mir schon fast Angst machen, aber das wäre ja auch ein Einstieg in das Thema.
Also dann. Ein paar Träume – und ein paar Ideen dazu, wer eigentlich seelisch krank ist. Und wer gesund. Und vielleicht auch ein paar Bemerkungen dazu, wie es heute so läuft in einer Werkstatt. Dann ist das auch offiziell und Arbeitszeit. Denn ich verdiene mein Geld in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Das darf ich, weil ich meine Stelle dort nach einer Bewerbung bekommen habe. Und weil ich sogar der Chef bin, bekomme ich ein richtiges Gehalt, wie meine Kolleginnen und Kollegen, die eine Stelle in der Werkstatt haben – als nicht kranke, als nicht behinderte Menschen. Meine anderen Kolleginnen und Kollegen arbeiten in der Werkstatt, weil sie nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten können. Sie bekommen nur ein Entgelt, und das reicht zum Leben nicht aus, so dass sie Grundsicherung beantragen müssen. Die bekommen sie aber, weil sie ja krank oder behindert sind. Wären sie das nicht, oder würden sie dafür kein Attest bekommen, dann wären sie arbeitslos und bekämen eine andere Grundsicherung vom Jobcenter.
Offizielles zur Werkstatt I: Wir können das Konzept der Werkstatt nur verstehen, wenn wir das System von Arbeit und Profit in unserer Gesellschaft verstehen
Die Werkstatt ist für Menschen, die nicht auf den allgemeinen Arbeitsmarkt passen – die dort ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können. Der Käufer der Arbeitskraft wendet normalerweise sein Kapital auf, um die Arbeitskraft zu bezahlen, also für ihren Unterhalt und ihre Erhaltung zu sorgen, das macht er aber nur, weil er den Wert, den die Arbeitskraft produziert, behalten kann. Und das macht er auch nur dann, wenn es über den Wert der Arbeitskraft hinaus einen Mehrwert gibt – denn den kann derjenige, der das Kapital aufwendet, auch behalten. Das ist eine kurze und sicher nicht vollständige Beschreibung unseres Wirtschaftssystems und erklärt, zumindest wenn man Karl Marx folgt, den Kern der kapitalistischen Akkumulation.
Es wird deutlich, dass es keine Natürlichkeit gibt, was der „allgemeine Arbeitsmarkt“ ist. Das war in einer Gesellschaft, in der die Arbeit von Sklaven oder Leibeigenen gemacht wurde, anders als im Kapitalismus. Und es kann in einer Gesellschaft, die die kapitalistische Gesellschaft ablöst, wieder anders sein. Insofern gibt es auch keine natürliche Einteilung von Menschen, die „arbeitsfähig“ sind oder die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung „arbeitsunfähig“ sind. Das ist eine gesellschaftliche, juristische Konstruktion. Und so wie es auf der Basis der kapitalistischen Lohnarbeit Konstruktionen gibt für „Arbeitslosigkeit“ (mit ALG I) oder „Langzeitarbeitslosigkeit“ (mit ALG II), so gibt es auch Konstruktionen für die „Nicht-Erwerbsfähigkeit“: Die Rente, das Krankengeld, oder eben auch die Sonderkonstruktion einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Und das alles, die Arbeitsämter und Jobcenter, die Werkstätten und die Renten, das ist nur zu verstehen als eine Konsequenz aus dem Arbeitsmarkt, der in erster Linie der kapitalistischen Akkumulation (dem Profit, der Rendite) dient. Wenn man diese gesellschaftliche Basis als gegeben und nicht veränderbar annimmt, muss man in der Konsequenz soziale Ergänzungsbetriebe denken, zumindest wenn man eine soziale Gesellschaft will, die ein menschliches Leben auch für diejenigen will, deren Wertproduktion (angeblich) nicht ausreicht und die daher ihre Arbeitskraft nicht verkaufen zu einem auskömmlichen Preis. Wenn man aber – wie ich – davon ausgeht, dass auch die kapitalistische Basis unserer Gesellschaft nicht bleiben muss, wie sie ist, dann kann man sich eine ganze Menge von Alternativen vorstellen – anders zu arbeiten, für alle, nicht nur für die Kranken, Alten, Besonderen.
Traum I: Einkommen unabhängig von Arbeit – das bedingungslose Grundeinkommen
Hätten wir nicht genug Reichtum in Deutschland, um allen Menschen ein Grundeinkommen zu zahlen, von dem sie gesichert leben können? Müssen wir eigentlich zwischen Arbeitslosengeld I und II, Rente, BaföG, Wohngeld – also zwischen den einzelnen Leistungen unterscheiden, die aus Steuermitteln und aus Beiträgen zu Sozialversicherungen finanziert werden? Brauchen wir hunderttausende Angestellte, die penibel prüfen, unterscheiden, berechnen, damit man am Ende doch zumindest so viel bekommt, dass man nicht verhungern muss? Kostet der ganze Apparat nicht schon mehr, als er überhaupt ausschüttet an diejenigen, die das Geld brauchen? Seit einigen Jahren gibt es die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle, und mit jedem Jahr wird diese Idee plausibler. Immer mehr Werte werden von Maschinen produziert, immer mehr Reichtum entsteht durch immer weniger „produktiv“ arbeitende Lohnarbeiter. Gleichzeitig leisten die Familien, in der Regel die Frauen, die Pflegearbeit für die Alten – unbezahlt. Sie erziehen Kinder – unbezahlt. Gleichzeitig wird zum Glück auch in anderen Bereichen durch freiwillige, unbezahlte Arbeit das soziale Leben aufrechterhalten – in Sportvereinen, Kirchen, Gewerkschaften, Kulturinitiativen, sozialen Hilfsprojekten.
Das bedingungslose Grundeinkommen würde dazu führen, dass diese wichtigen, derzeit unbezahlten Arbeiten als gewollte Alternative zur Lohnarbeit von den Menschen angenommen würden. Und für alle diejenigen, die nicht den Wert ihrer Arbeitskraft in der Lohnarbeit erzeugen können oder wollen, würden viele Alternativen von Arbeit, die sinnvoll ist, die notwendig ist, die ihnen Spaß macht, entstehen. Ich würde gerne arbeitslos werden, weil es eine Werkstatt in der heutigen Form nicht mehr geben müsste, weil das Grundeinkommen andere Formen von Arbeit ermöglichen könnte. Denn ich müsste vor dieser Veränderung keine Angst haben, wäre mir doch das Grundeinkommen sicher, und zudem wäre mir sicher, dass mit meinem Reichtum und meinen Privilegien auch die Armut und die Ausgrenzung in meiner Straße, meiner Stadt, meinem Land verschwinden würden.
Offizielles zur Werkstatt II: Schöne Schein-Alternative im Kapitalismus
Wenn die Werkstatt also etwas ist, das die Arbeit im Kapitalismus aus sozialen Gründen ergänzt, dann ermöglicht sie doch sicherlich ganz andere Arbeit als die Lohnarbeit? Natürlich nicht – denn die Lohnarbeit ist ja die gesellschaftliche Normalität, und dieser Normalität ordnet sich alles Abgeleitete, also das gesamte Sozialsystem, unter. Betrachtet man die Gesellschaft also aus der Perspektive der „normalen“ Lohnarbeit, dann gibt es Menschen, die Lohnarbeit noch nicht können, diese aber lernen sollen. Das ist der Säugling, das Kita-Kind, das Schulkind, der Studierende sowieso – und auch der Mensch mit Behinderung, der möglichst lernen soll, im Normalsystem klar zu kommen. Übrigens: Auch der kranke Mensch soll wieder arbeiten (deshalb braucht man schon eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, wenn man krank ist und seine Arbeit nicht verlieren will). Und der alte Mensch? Nun gut, der muss vielleicht nicht mehr arbeiten, weil er schon in seinen jüngeren Jahren gearbeitet hat. So – und was ist nun der Mensch mit Behinderung oder chronischer psychischer Erkrankung? Die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen bietet ihm ein Privileg, eine Teilhabe an der Gesellschaft durch Arbeit. Anders als der gesunde oder nur wenig behinderte Mensch, der im Falle der Arbeitslosigkeit kein Recht auf Arbeit hat und hoffen muss, einen neuen Käufer für seine Arbeitskraft zu finden, gibt es einen Rechtsanspruch auf einen Arbeitsplatz für Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung oder Krankheit erwerbsunfähig sind. Ist das ein Paradies? Arbeit garantiert, unkündbar sein, die Befreiung der Arbeit vom kapitalistischen Zwang? Natürlich nicht. Denn sie ist nur abgeleitet aus der Unfähigkeit, sich am Arbeitsmarkt zu verkaufen. Leider zweite Wahl. Leider nur Ersatz. Nicht profitabel, also Beschäftigungstherapie?
Das stimmt natürlich auch nur, so lange ich das aus der Perspektive der Lohnarbeit beurteile, so lange ich die kapitalistische Lohnarbeit als Normalität nicht mehr kritisch hinterfrage, so lange ich nicht mehr träume von einer Arbeit, die sich vor allem über ihre Sinnhaftigkeit, ihre gesellschaftliche Bedeutung, ihre Achtung vor dem Ökosystem Erde bestimmt. Wenn ich also akzeptiere, dass die kapitalistische Lohnarbeit normal ist, ist notwendiger Weise alle andere Arbeit dieser Norm untergeordnet: Unbezahlte Familienarbeit, Werkstattarbeit mit geringer Wertschöpfung, oder auch die „brotlose Kunst der Künstler“ – als Arbeit nur anerkannt, wenn das Kunstwerk auf dem Markt (!) Geld bringt.
Konkret für die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen heißt dies: Wir arbeiten auf dem Konkurrenzmarkt mit kapitalistischer Lohnarbeit, suchen dort Nischen, müssen aber auch die Arbeitsweisen der Lohnarbeit häufig kopieren, schon alleine, um auch einen Wechsel in die kapitalistische Lohnarbeit möglich zu machen. Das gelingt uns, wie ich finde, oft ziemlich gut, wir schaffen auch Freiräume für künstlerische Arbeit, wir ermöglichen andere Pausen und Förderungen außerhalb der Arbeit, aber in der „Arbeitszeit“. Aber wir sind kein Paradies und auch keine wirkliche Alternative zur kapitalistischen Lohnarbeit. Wir müssen diese als Norm und Wertsetzung akzeptieren. Wir müssen den Kapitalismus kopieren und Nischen suchen, um die erforderlichen Umsätze zu erzielen. Diese Umsätze ermöglichen das Entgelt für die Kolleg*innen mit Behinderungen. Mein Gehalt als Werkstattleiter bekomme ich von den Kostenträgern, denn die Funktion der „nicht behinderten“ erforderlichen Mitarbeiter einer Werkstatt wird in den Kostensatz gerechnet, den die Werkstatt bekommt, weil sie die Mitarbeiter*innen mit Behinderungen fördert.
Traum II: Überwindung des Kapitalismus
Wenn unsere Gesellschaft – was wir 'mal überlegen sollten – reich genug ist, ein bedingungsloses Grundeinkommen zu finanzieren, dann wären wir ja fast schon beim Traum von Karl Marx, der sich eine Gesellschaft nach dem Kapitalismus so vorgestellt hat, dass die notwendige Arbeit nur einen kleinen Teil der menschlichen Energie verbraucht – weil die Maschinen vieles für uns machen. Und der träumte, dass immer mehr Bereiche von Arbeit einfach erledigt werden, weil sie Freude machen. Er könnte dann, so hatte sich Marx das vorgestellt, jeden Tag überlegen, ob er lieber angeln geht oder philosophieren. Das war für Marx dann die Überwindung des Kapitalismus und der Kommunismus – eine Gesellschaft ohne Zwang zur Arbeit, und damit auch ohne Zwang zu Kontrollen, ohne staatliche Regulation, ja ganz ohne Staat, eine freie Assoziation von freien Produzenten. Leider hat es dann im Namen des Kommunismus so elende, ausbeuterische und verbrecherische Systeme gegeben, dass dieser Traum vielen nicht mehr möglich erscheint. Aber ob das heißen muss, dass der Kapitalismus ohne Alternative ist, das glaube ich nicht.
Ich träume das daher doch 'mal weiter: Wenn Arbeit so wäre, dass sie nach gesellschaftlichem Sinn und persönlichen Fähigkeiten und Interessen der Produzenten organisiert wäre, gäbe es keinen Grund mehr, Menschen von der Arbeit auszuschließen. Menschen könnten, wenn das für sie wichtig ist, weniger oder langsamer arbeiten als andere. Sie könnten das Spiel der Kinder mit dem Lernen und mit der Produktion von Dingen verbinden – Kinderarbeit musste verboten werden, weil Kinder bei Lohnarbeit kaputt gehen. Ebenso gehen viele sensible Menschen bei Lohnarbeit kaputt, werden krank, müssen aussteigen – andere Arbeitsformen würden ihnen Freude bringen und ihnen Produktivität ermöglichen. Wenn es keinen Arbeitszwang mehr gibt, gibt es auch keine Notwendigkeit, ab einem bestimmten Alter nicht mehr zu arbeiten – man arbeitet so, wie man es für die Gesellschaft und für sich gleichermaßen richtig findet, also vielleicht auch so lange, bis man stirbt.
Wenn dieser Traum Wirklichkeit würde, hätten wir vielleicht auch keinen Begriff von Krankheit oder Behinderung mehr, zumindest würde der nichts mehr mit „Arbeit“ oder „Arbeitsfähigkeit“ zu tun haben. Seelisch krank wäre ich dann, wenn ich für mich und im Umgang mit anderen Menschen sehr viel leide – und natürlich könnte und würde ich mich um Verbesserung und Gesundung kümmern. Ich würde aber nicht mehr durch meine angebliche „Arbeitsunfähigkeit“ zu einem kranken oder behinderten Menschen definiert. In einer Gesellschaft, die auf Exklusion aus der eigentlich verbindlichen Arbeit verzichtet, braucht es keine Sondereinrichtungen der Eingliederungshilfe. Inklusion durch Arbeit wäre da automatisch gegeben, wo es keine Exklusion aus dem herrschenden System der Lohnarbeit gibt.
Offizielles zur Werkstatt III: Sozialarbeit, aber manchmal trotzdem hilfreich
Eigentlich bin ich am Ende dieses Artikels, aber vielleicht fehlt dann doch noch so etwas wie ein Fazit, aber auch die Beschreibung eines Programms unserer Werkstatt. Das Fazit wäre dies: So lange wir als Reparaturbetrieb im Kapitalismus soziale Arbeit machen für diejenigen, die das System der Lohnarbeit nicht gebrauchen kann, können wir die Folgen von Exklusion nur mildern – wir können den Ausschluss der Menschen aus der Gesellschaft aber nicht verhindern. Das ist auch keine Folge davon, dass eine WfbM eine „Sondereinrichtung“ ist. Auch eine geförderte Mitarbeit von Menschen mit Einschränkungen in den Normalbetrieben der kapitalistischen Lohnarbeit ist eben nicht der Regelfall, dass Mehrwert dadurch produziert wird – auch in diesem Fall wird mit Steuermitteln die Mitarbeit ermöglicht, auch wenn dies nicht auf den ersten Blick deutlich wird, auch wenn es keine augenscheinliche Trennung zwischen den Mitarbeitenden mit und ohne Behinderung geben mag.
Dennoch können wir, und insbesondere die Menschen mit psychischen Erkrankungen und die Menschen mit Behinderungen können dies, sagen, ob wir gute oder schlechte Sozialarbeit machen. Gut ist es, wenn wir alle Möglichkeiten des Systems nutzen, um den Wünschen der ausgegrenzten Menschen zu entsprechen, um zu fördern, dass überhaupt wieder Wünsche entstehen, die eigenständig sind. Gute Sozialarbeit nimmt die Potenziale, den Spaß, die Hobbys, die Talente der Ausgegrenzten wahr, gibt Raum, dass sich das entfaltet. Und mit der Entfaltung der Persönlichkeiten kann es gelingen, auch in der Sondersituation gesund und glücklich zu sein.
Und jetzt zum Schluss mal etwas, das sehr kitschig ist und das Gerücht aufgreift, dass man in Amerika vom Tellerwäscher zum Millionär werden kann. In unserer Werkstatt schaffen wir Raum, dass Menschen im Kunstatelier malen. Wir versuchen, interessante Ausstellungen mit diesen Bildern zu machen. Vielleicht findet ja ein Mensch mit Entscheidungsgewalt (oder Geld, was oft aufs Gleiche hinausläuft) 'mal den Weg in eine dieser Ausstellungen. Er entdeckt den Menschen mit psychischer Erkrankung, der gleichzeitig ein künstlerischer Mensch ist. Dessen Kunst wird nun von dem mächtigen Menschen zu allgemeiner Anerkennung erhoben – und auf dem Kunstmarkt erzielt unser psychisch erkrankter und künstlerisch begabter Mensch auf einmal Schweinepreise. Reich, anerkannt, bewundert – und psychisch krank. Aber vielleicht durch Ruhm und Geld auch glücklich geworden. Ist der Mensch dann noch psychisch krank? Ich würde sagen, er ist besonders, ist damit berühmt und auch reich geworden. Künstler durften ja schon immer etwas besonders sein.
(Klaus Hermansen)
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