Urteilsfähigkeit (T.J.)
Eingeschränkt urteilsfähig zu sein heißt, nicht handlungsfähig zu sein, nicht adäquat reagieren können auf die Anforderungen, denen man ausgesetzt ist. Aber man kann auch nur urteilsfähig sein, wo man sich auskennt. Zu wissen, was man nicht beurteilen kann, gehört zur Urteilsfähigkeit dazu. Man muss wissen, wo man sich wegen Unkenntnis raushalten und stattdessen besser Hilfe holen sollte.
Wo sich keiner auskennt, kann sich auch keiner ein Urteil bilden. Es gibt Dinge, die mit wissenschaftlichen Methoden nicht zu beweisen sind, und daher Glaubenfragen bleiben müssen. Über vieles kann man nur Vermutungen anstellen, und in manchen Fällen gibt es kein Richtig oder Falsch.
Aber was ist Urteilsfähigkeit? Wenn der Denkprozess zu Ergebnissen kommt, die weiterhelfen, hat man einiges gewonnen. Da die Realität bevorzugt funktioniert, ist in der Praxis die wichtigste Frage: stimmt das, was ich denke? Mehr kann man schließlich mit denken nicht erreichen. Auf vielen Gebieten ist es heiß umstritten, was die Realität ist. Was meint man nur, was ist gerade Mode? Selbst in der Wissenschaft gibt es Modetheorien, die wenige Jahre später wieder aufgegeben werden.
Oft ist Wahrheit politisch vorgeschrieben, Ideologien und Religionen kommen mit Antworten daher, die richtig abstrus sein können, aber verpflichtend sind. Selbst manche Arbeitgeber haben ihre eigene Firmenphilosophie, die für ihre Mitarbeiter Pflicht ist. Da wird man schnell zum Idioten erklärt, nur weil man eigene Gedanken hat, die oft auch noch zutreffender sind als das, was jeweils vorgeschrieben ist.
Im Lebenskampf hat man oft wenig Zeit, da kommt es darauf an, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, um sich auf die Lösung der wichtigen Probleme konzentrieren zu können. So kann das Leben inmitten von Unklarheit und Unsicherheit weitergehen. Als erstes muss man sich selbst verstehen, weil man mit sich selbst ständig zu tun hat, dann muss man andere verstehen, damit man mit ihnen umgehen kann, und als letztes kann man versuchen die Welt zu verstehen, was dann nicht nur persönlich hilfreich ist, sondern die Welt selbst weiterbringt. Ein Instinkt, wo man mit Leuten dran ist, mit denen man zu tun hat, ist äußerst hilfreich. Den eigenen Lebensraum zu kennen, die Arbeit, die man macht, zu beherrschen, die Menschen, denen man nahe ist, richtig einzuschätzen, macht eine geordnete Phase im Leben aus.
Wenn man von fehlerhaften Fakten ausgeht, stört das generell die Urteilsbildung. Falsche Wahrnehmungen und Halluzinationen in psychotischen Krisen stören hier als falsche Fakten. Aber nach meiner Erfahrung ist in psychotischen Krisen die Urteilsfähigkeit selbst schwer gestört, diese Fähigkeit funktioniert einfach kaum noch, auch nicht im Umgang mit korrekten Fakten.
Die Medikamente wirken hier, wenn vielleicht auch nur indirekt, indem sie für Ruhe sorgen und eine dringend benötigte Pause ermöglichen. Ein Klinikaufenthalt ist spätestens unumgänglich, wenn man mit dem Alltag gar nicht mehr zurechtkommt. Oft kommt die Urteilsfähigkeit relativ schnell zurück, aber das kann auch länger dauern. Wenn man noch weiß, dass man krank ist, kann man sich zurückhalten, keine Verträge abschließen, keine teuren Sachen kaufen und das Auto stehen lassen. In dem Wissen, dass die Urteilsfähigkeit wiederkommt, kann man warten bis sie wieder da ist und den Ball solange flach halten. Dafür hat man auch seine Betreuer, dass die hier einspringen und die Sachen regeln, die sich nicht aufschieben lassen, bis man wieder halbwegs fit ist.
Warum verschwindet die Urteilsfähigkeit und kommt irgendwann wieder? Die Ähnlichkeit zum Alkoholrausch und zum Gebrauch von halluzinogenen Drogen ist vorhanden. Wie eine Vergiftung mit körpereigenen Giften kommt mir das vor, die von selber kommen kann, mehr oder weniger lang anhält und auch wieder weg geht. Eine Entgleisung der Regulation der Neurotransmitter hört sich da spannend an. Aber man weiß eigentlich viel zu wenig über das Bewusstsein selbst, dass ich da skeptisch bin, dass man schon weiß was in psychotischen Krisen passiert. Vielen Betroffenen kommt die Psychose so vor, als käme sie auch von außen, aus den Tiefen des Geistes dieser Welt.
Schwierigkeiten mit sich selbst und im Umgang mit anderen Menschen können in der Klinik zu großem Stress führen, was dann den Gesundheitszustand noch weiter verschlechtert. Genauso kann die Arbeitslosigkeit und der Verlust des sozialen Umfeldes nach einem Klinikaufenthalt einen Dauerstress erzeugen, der gar nicht gut ist. Mit solchen Situationen klarzukommen ist selbst dann noch schwierig, wenn die Urteilsfähigkeit wieder hergestellt ist.
Eingeschränkte Urteilsfähigkeit durch Krankheit ist meistens kein Dauerzustand, aber mit der entsprechenden Diagnose wird schnell bei jeder Unstimmigkeit diese vermutet, und es wird sich über dich hinweggesetzt. Im Hilfesystem kann das ausgenutzt werden, um sich die Arbeit zu erleichtern oder auch aus finanziellen Motiven, z.B. um Wohnheimplätze besetzen zu können. Es ist schnell gemacht, dass du wieder in die Klinik kommst. Ist die Diagnose einmal gestellt worden, wird im Zweifelsfall immer die eingeschränkte Urteilsfähigkeit vermutet.
Auch außerhalb des Hilfesystems wird diese Unart von vielen Zeitgenossen übernommen, bei jeder kleinsten Unstimmigkeit werden die Leute misstrauisch, wenn sie wissen dass du eine entsprechende Diagnose hast. Bei Amtsbesuchen muss man oft nur deswegen einen Wohnbetreuer mitbringen, damit der den Beamten bestätigen kann, dass man keinen Unsinn erzählt. Das ist verständlich, aber das nervt.
Wenn du wirklich in der Krise bist, kann es schnell passieren, dass das einer ausnutzt und dir z.B. ungünstige Handyverträge verkauft. Da ist es dann von Vorteil, dass dir dein Arzt die eingeschränkte Urteilsfähigkeit bescheinigt, weil du auf diesem Weg solche Verträge später wieder rückgängig machen kannst, wenn du Glück hast. Wenn du einen Betreuer hast, kann der sogar den entsprechenden Papierkram erledigen, was der meistens auch ganz gut kann. Auch Gesunde werden schnell betrogen, wenn sie unvorsichtig sind oder sich nicht gut auskennen, und müssen dann oft zahlen, und können nichts mehr dagegen machen.
Die Urteilsfähigkeit ist komplex, und von Zeit zu Zeit und individuell sehr verschieden. Sie entwickelt sich ein Leben lang, und oft muss man Jahre daran arbeiten, um sich in schwierigen Fällen ein Urteil bilden zu können. Die Entscheidungsfähigkeit ergibt sich erst mit entsprechenden Kenntnissen. Dauernd braucht man Experten, die einem helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und gerät dabei auch an Experten, die zwar kompetent sind, aber nicht in deinem Interesse arbeiten. So ist man dann nicht gut beraten.
Probleme lösen und Schwierigkeiten managen ist insgesamt eine Kunst, die unterschiedlich verteilt ist, und ein Leben lang gelernt werden kann. Sich Strategien aneignen und diese intelligent anwenden gehört zu jeder Berufsausbildung. Ausbildungen, Studiengänge und langjährige Erfahrungen sind oft nötig, um auf Spezialgebieten urteilsfähig zu werden.
Lebenspraktische Kenntnisse wachsen erst mit der Lebenserfahrung, und gerade im Umgang mit der Liebe ist man sehr auf sich allein gestellt, auch wenn man sich da mit anderen austauschen und beraten lassen kann. Was man in der Liebe im Laufe des Lebens selbst für einen Unsinn verzapft, und überall bei anderen beobachten kann, ist oft das reinste Irrenhaus. Die Zurechnungsfähigkeit ist auf diesem Gebiet regelmäßig mehr oder weniger stark eingeschränkt, das ist hier wohl normal. Hier lassen uns die Experten auch meistens in Ruhe, wohl wissend, das hier Chaos die Regel ist. Und dieses Chaos hat auch seinen Reiz, und macht einen wesentlichen Teil des menschlichen Lebens aus.
(Tobias Jeckenburger)
|
|