Das Vulnerabilitätskonzept aus ärztlicher Sicht (J.S.)
Das Vulnerabilitäts-Konzept geht davon aus, dass jeder Mensch angeborene und erworbene besondere Verletzlichkeiten besitzt. Dies ist von besonderer Bedeutung, wenn durch Lebensereignisse oder –verläufe diese speziell verwundbaren seelischen Bereiche betroffen sind, weil die daraus entstehenden Folgen von besonderer Heftigkeit und Schwere sein können. Insofern ist die persönliche Vulnerabilität jedes einzelnen Menschen ausgesprochen wichtig.
Die Frage, welche Verletzlichkeiten ich sehe, lässt sich aus den oben aufgeführten Gründen nicht pauschal beantworten, weil sie eben höchst individuell geprägt sind und sich auf die unterschiedlichsten Bereiche unseres Lebens beziehen können. Sicherlich sind Kränkungen, Enttäuschungen und Verlusterlebnisse immer potenziell krank machende Faktoren, inwieweit diese aber auf besondere Verletzlichkeit beim Einzelnen stoßen lässt sich auch nur bei jedem Einzelnen beantworten.
Im Vulnerabilitätsmodell sind Verletzlichkeiten den Ursachen zugeordnet. Sicherlich ist es aber auch so, dass wiederholte „Treffer“ in verletzlichen Bereichen die Vulnerabilität erhöhen können, was dann auch den Folgen der Erkrankung zuzurechnen wäre. Insofern stehen Ursachen und Folgen in einer engen Wechselbeziehung.
Der Stellenwert der V. ist hoch. Deshalb wird mit diesem Modell auch stets in psychoedukativen Gruppen gearbeitet. Psychoedukation hat ja, allgemein ausgedrückt, das Anliegen, jeden Pat. zum Experten für die eigene Erkrankung zu machen, jeden damit zu befähigen, seine besonders verwundbaren Stellen zu identifizieren und zu lernen, in diesen Bereichen besonders achtsam mit sich umzugehen. Dazu gehört auch, die Grenzen eigener Belastbarkeit wahrzunehmen.
Ziel einer Behandlung kann auch sein, diese Grenzen nach und nach wieder zu erweitern und auch auf diesem Weg einer subjektiv erlebten dauerhaften Unterforderung entgegen zu wirken. Ein wichtiges Anliegen der PE ist es natürlich, eigene Überforderung zu verhindern, und manchmal ist der Grat zwischen Unter- und Überforderung sehr schmal, was den Versuch, die Grenzen weiter zu ziehen, durchaus sehr mühsam machen kann. Es ist aber sehr befriedigend, wenn man die Erfahrung macht, dass es möglich ist, die vermeintlich engen Grenzen eigener Handlungsspielräume zu erweitern, so dass ich als Arzt Patienten stets ermuntern würde, dies mit der nötigen Achtsamkeit anzugehen.
An Ihrem Text habe ich nichts zu kritisieren oder zu verändern, denn er drückt ihre persönliche Erfahrung und Wahrnehmung der eigenen Erkrankung und/oder der Erkrankung Ihnen bekannter Menschen aus, viele Andere werden Ihnen aus eigener Erfahrung in den meisten Punkten zustimmen.
Aufgefallen ist mir beim Lesen, dass Sie sich schwerpunktmäßig mit der durch die Krankheit erworbenen Verletzlichkeit in unterschiedlichsten Bereichen auseinander setzen. Die beschriebenen Erfahrungen teilen Sie vermutlich mit vielen Anderen, die das aus ihrer eigenen Lebenswirklichkeit nachvollziehen können. Anmerken will ich nur, dass auch die besondere Schwere einer Psychose als Folge erlebter Kränkungen, Enttäuschungen, Verlusten usw. im Zusammenhang mit eigenen, besonders verwundbaren Stellen betrachtet werden kann, um sich darüber klar zu werden, warum seelische Verletzungen, die möglicherweise auch Andere in gleicher Form kennen und erleben, ausgerechnet bei mir persönlich so schwerwiegende Folgen nach sich ziehen, bei Anderen aber nicht.
Der Begriff der „Dünnhäutigkeit“ kann hier auch so verstanden werden, dass, weil die „Haut“ an dieser Stelle immer schon besonders „dünn“ war, viel leichter dort Verletzungen entstehen, als an anderen Stellen oder bei anderen Menschen. Insofern bin ich davon überzeugt, dass angeborene oder sehr früh erworbene Vulnerabilität bei der Entstehung von Psychosen und auch anderen seelischen Erkrankungen eine wichtige Rolle spielt.
(J. Schäfer)
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