www.introspektiva.de - Tobias Jeckenburger: Die Reise des Kosmos - Online-Diskussion - KLuW e.V.: Die Wirklichkeit psychischer Krankheiten

Zumutungen und Chancen (E.A.)


Der Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes schlägt für unseren Sohn eine eigene Wohnung vor. Das entspanne erfahrungsgemäß das Verhältnis zwischen Eltern und Kind.

Unser Sohn bewohnt ein großzügiges Zimmer mit eigenem Bad in unserem Haus, das er tagsüber ebenso wie den Garten für sich alleine hat. Wären wir eine Hartz IV-Großfamilie in einer kleinen Wohnung, wäre ein Auszug für ihn vielleicht verlockend. So aber erscheint ihm ein Umzug in eine kleine Wohnung oder ein Apartment als Nachteil. Wenn uns das Zusammenleben mit ihm nicht gefalle, könnten wir ja ausziehen. Das Argument, dass üblicherweise die erwachsenen Kinder das Elternhaus verlassen und nicht umgekehrt, beeindruckt ihn nicht.

Außer weniger Wohnfläche fürchtet unser Sohn, allein in einer Wohnung zu vereinsamen. Im Laufe der Erkrankung hat er seine Freunde verloren und nun nur noch uns, die Familie. Wir haben ein schlechtes Gewissen, glauben aber, dass eine räumliche Trennung dem Familienfrieden gut tut und unserem Sohn die Chance eröffnet, ein selbstständiges Leben zu üben. Schließlich leben wir Eltern nicht ewig. Unser Rat, sich einen neuen Bekanntenkreis aufzubauen mit Menschen in ähnlicher Lebenslage wie seiner stößt auf Ablehnung. Er will, wie er sich ausdrückt, keine bekloppten Freunde. Und auf keinen Fall will er sich von einem Betreuer Vorschriften machen lassen. Wir erklären, ein Betreuer sei kein Vormund, sondern jemand, der ihm unterstützend zur Seiten stehen kann, zum Beispiel beim Kontakt mit Behörden. Unser Sohn bleibt bei seinem Nein.

Durch den Umzugsstress gerät er in eine Psychose. Sein merkwürdiges Verhalten beunruhigt die Nachbarn und es kommt zwischen ihnen und unserem Sohn zur Auseinandersetzung mit Polizeieinsatz. Die Reaktionen der Hausbewohner in den nächsten Wochen sind unterschiedlich. Die einen werfen uns vor, unseren „Problemsohn“ zu ihnen ausquartiert zu haben, um auf ihre Kosten unsere Ruhe zu genießen. Andere sehen ein, dass auch solche Menschen irgendwo wohnen müssen, aber dann bitte unter Aufsicht eines Betreuers. Wieder anderen tut unser junger Sohn Leid und sie wollen ihre Anzeige zurückziehen, da er mit seiner Krankheit schon gestraft genug sei.

Die Beschwerden bei uns und der Wohnungsgesellschaft über unseren Sohn reißen nicht ab. Die präventiven Eingreifmöglichkeiten des gerichtlich eingesetzten Betreuers enttäuschen die Erwartungen der Hausbewohner, vielleicht auch unsere. Mehrfach in kurzen Abständen muss unser Sohn stationär in psychiatrische Behandlung. Der Stationsarzt schlägt den Umzug unseres Sohnes in ein der Klinik angegliedertes Wohnheim vor. Dort könne man mehr für ihn tun.

Aus unserer Sicht grundsätzlich ein guter Vorschlag. In dem Wohnheim wäre unser Sohn näher an unterstützenden Angeboten und hätte die Chance auf soziale Kontakte außerhalb der Familie. Allerdings habe ich noch das Flehen unserer Sohnes „Bitte schiebt mich nicht in ein Heim ab!“ nach einem seiner Psychiatrieaufenthalte in den vergangenen Jahren im Ohr. Zudem verfügt das besagte Wohnheim nur über Zweibettzimmer. Sich ein Zimmer über längere Zeit oder gar dauerhaft mit jemandem teilen, ob unser Sohn freiwillig dazu bereit ist? Weder mein Mann noch ich würden dies für uns selbst wollen, halten uns aus der Diskussion über einen Ortswechsel aber ganz heraus. Unser Sohn entscheidet sich gegen das Wohnheim.

Über den Vorschlag, eine Tagesstätte in seiner Nähe zu besuchen, denkt er ernsthaft nach. Besonders die Vorstellung, gemeinsam einzukaufen und zu kochen gefällt ihm. Allerdings kann man sich nicht einzelne Angebote des Programms herauspicken. Eine Anmeldung ist nur für die komplette Woche und den ganzen Tag möglich. Soviel fremd organisierte Zeit ist unserem Sohn zu viel. Möglicherweise verschreckt ihn auch die Außendarstellung der Tageseinrichtung, die in großen Buchstaben gut sichtbar darauf aufmerksam macht, dass es sich hier um einen Ort für psychisch Kranke handelt. Texte in einem Schaufenster beschreiben die Besucher der Einrichtung als hilfsbedürftige Menschen, die hier Unterstützung erfahren. Auf Fotos sieht man überwiegend ältere Leute bei gemeinsamen Spielen und Bastelarbeiten. Wäre ich selbst durch eine psychische Erkrankung aus meinem gewohnten Alltag mit Verantwortung für Familie und im Beruf herausgerissen worden, hätte ich vermutlich große Schwierigkeiten, mich als Adressatin dieses Angebotes zu sehen, auch wenn ich objektiv betrachtet zur Zielgruppe gehören würde.

An eine Ausbildung war und ist für unseren Sohn nicht zu denken. Während seiner Klinikaufenthalte nahm er öfters an der Arbeitstherapie teil. Da er sich in der Werkstatt geschickt anstellte, unterbreitete man ihm dann das Angebot, auch nach seiner Entlassung weiterhin dort tätig zu sein. Hatte er sich kurz vorher noch über das Lob des Werkstattleiters gefreut, schlug seine Stimmung in Empörung um. Gegen die Langeweile und um sich etwas Taschengeld dazuzuverdienen fand er die Arbeit in einer Behindertenwerkstatt in Ordnung. Dass das seine berufliche Perspektive sein sollte, war dagegen für ihn inakzeptabel.

Zu Beginn seiner Erkrankung waren wir sehr ungeduldig mit unserem Sohn und sahen in jedem Hilfsangebot eine Chance für ihn, die er unbedingt ergreifen sollte. In der Psychiatrie Tätige warben bei uns um Verständnis für ihn, wenn er sich Maßnahmen egal welcher Art verweigerte. Das müsse ein junger Mensch erst einmal mit seinem Selbstbild überein bekommen, psychisch krank zu sein. Mit der Zeit verstanden wir unseren Sohn besser, der sich nicht den Stempel ‚psychisch krank’ aufdrücken lassen wollte. Nun waren es die Ärzte, Pfleger und Sozialarbeiter, die die Geduld verloren und erwarteten, er müsse endlich was seine Situation und seine Möglichkeiten betrifft in der Realität ankommen. Aber Einsicht lässt sich nicht erzwingen.

Was aus Sicht des einen ein tolles Angebot sein mag, ist für jemand anderes möglicherweise eine Zumutung.
(Eine Angehörige)