Auf der Suche nach der Zauberformel (E.A.)
Mein Sohn sieht und hört Dinge, die ich nicht sehe oder höre. Er interpretiert was um ihn herum geschieht völlig anders als ich, die übrigen Familienmitglieder, seine Freunde. Wir sind in unseren Wahrnehmungen nicht kompatibel. Das macht unser Zusammenleben schwer.
Ich denke, mein Sohn ist verrückt geworden. Der Arzt nennt den Zustand Psychose. Der Begriff sagt mir nichts. Ich bekomme den Titel eines Sachbuches genannt, das über Psychosen sowie deren Behandlung aufklärt. Ich arbeite mich durch den dicken Wälzer, den ich in der Stadtbibliothek ausleihen konnte. Das Buch liefert eine Menge an Informationen aber keine eindeutige Aussage zu meinen Fragen „Wie konnte es dazu kommen?“ und „Wann ist es wieder vorbei?“
Ich suche nach Antworten und einem Rezept gegen die Verrücktheit; in weiteren Büchern, in Beratungseinrichtungen, in Gesprächskreisen. Je mehr ich erfahre, umso ratloser werde ich. Zu jeder Hypothese über die Entstehung und einer erfolgversprechenden Behandlung findet sich eine Gegenmeinung.
Über den Verband Psychiatrie-Erfahrener kommt der Kontakt zu einer Betroffenen zustande. Nach zwei Stunden und mehreren Tassen Tee verabschieden wir uns voneinander. Meine Gesprächspartnerin bedauert, mir nichts Neues erzählt haben zu können. Mir wird klar, ich werde nicht finden was ich bisher unbewusst suchte: Ein Patentrezept, das meinen Sohn in seinen psychotischen Phasen wieder schnell in meine Wirklichkeit bringt und dort dauerhaft hält.
Der Kontakt zu anderen Psychose-Erfahrenen und betroffenen Angehörigen im Laufe der folgenden Jahre bringt die Bestätigung: Jede Krankheitsgeschichte ist anders. Über den Verlauf der Erkrankung lässt sich erst nach Ableben des Patienten etwas Verbindliches sagen, hatte es sinngemäß in dem ersten von mir gelesenen Buch gestanden.
Der psychoseerfahrene Sohn einer anderen Mutter entlastet mich von dem Druck, für die Genesung meines erwachsenen Sohnes verantwortlich zu sein. Seine Mutter lese weder Bücher über Schizophrenie noch führe sie Gespräche mit seinen Ärzten, sagt er. Sie sei einfach nur seine Mutter und dafür sei er ihr dankbar. Für seine Gesundheit übernehme er selbst die Verantwortung, seine Behandlung sei eine zu diskutierende Sache zwischen ihm und seinem Arzt.
Eine allgemeingültige Zauberformel zum Umgang mit der Erkrankung gibt es weder für Psychose-Erfahrene noch für deren Angehörige. Der Gedankenaustausch zwischen Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und in der Psychiatrie Tätigen über persönliche Erfahrungen hat sich für mich aber als hilfreich erwiesen.
(Eine Angehörige)
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