www.introspektiva.de - Tobias Jeckenburger: Die Reise des Kosmos - Online-Diskussion - KLuW e.V.: Die Wirklichkeit psychischer Krankheiten

Bösewicht in einer Wahnvorstellung (E.A.)


Ich sitze auf der Bank im Garten und genieße die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Nebenan wird klappernd der Grill abgebaut, eine Mutter ruft ihre Tochter zum Abendessen herein. Nicht weit von mir hinter einer Hecke wird gestritten. „Wie kommst du dazu, in der Verwandtschaft zu erzählen, wir hätten es auf deine Rente abgesehen!“, höre ich eine Frauenstimme empört sagen. Die Antwort kommt zu leise, als dass ich sie verstehen könnte.

Aus den Wortfetzen, die zu mir herüberschwappen, entnehme ich Folgendes: Die mir unbekannte Nachbarin hat ihren gutbezahlten Job aufgegeben, um die Schwiegermutter bei sich im Haus zu pflegen. Anstatt sich darüber zu freuen, dass ihr das Altersheim erspart bleibt, erzählt diese anderen, man hätte ihr aus Habgier die eigene Wohnung genommen, und sie müsse nun Sohn und Schwiegertochter von ihrer Rente mit durchfüttern. Dankbarkeit erwarteten sie nicht, wettert die Nachbarin, aber solche Diffamierungen wären das Allerletzte.

Spontan rate ich in Gedanken der aufgebrachten Nachbarin, Ruhe zu bewahren. Die Verwandten werden den Quatsch, den die alte Frau erzählt, nicht glauben. Tatsächlich nicht? Und könnte nicht etwas an den Vorwürfen dran sein? Wie will ich das beurteilen. Ich kenne die Leute doch gar nicht.

Schon manches Mal war ich in den psychotischen Phasen meines  Sohnes seinen Unterstellungen ausgesetzt. Anfangs habe ich teils verletzt oder verärgert auf seine Anschuldigungen reagiert. Heute bin ich in solchen Situationen bestürzt und traurig darüber, dass es wieder einmal so weit ist. Manchmal begreife ich gar nicht, warum mein Sohn wütend auf mich ist. Zu verworren sind seine Äußerungen. Ich weiß, irgendwann ist es wieder vorbei. Bis es so weit ist, gehen wir uns am besten aus dem Weg. Zum Glück ist das möglich.

Stillschweigend haben wir uns darauf verständigt, unkommentiert zur Tagesordnung überzugehen, sobald mein Sohn wieder im „Normal-Modus“ ist. Ist das die optimale Lösung? Manchmal wüsste ich im Nachhinein schon gerne, welcher Film da im Kopf meines Sohnes ablief, frage ihn aber nicht danach. Zum einen bin ich froh, wenn wir wieder friedlich miteinander auskommen und möchte die gute Stimmung nicht aufs Spiel setzen. Zum anderen will ich ihn nicht in Verlegenheit bringen. Möglicherweise ist ihm das, was er gesagt oder getan hat peinlich, wenn ich ihn darauf anspreche.

Wenn ein Fünfundzwanzigjähriger behauptet, dieses Haus, welches man ihm wegnehmen wolle, habe er sich in dreißig Jahren Berufsleben hart erarbeitet, ist das für jeden als Unsinn erkennbar. Da bin ich, seine Mutter, Dritten gegenüber fein raus. Die Putzfrau, die von einer Heimbewohnerin unberechtigt beschuldigt wird, ihr den Schmuck gestohlen zu haben, ist da eindeutig schlechter dran.

Ich gehe davon aus, dass Wahninhalte einen engen Bezug zum Leben des Betroffenen haben. Was sagt es dann über die Beziehung zwischen mir und meinem Sohn aus, wenn er mir immer die Rolle des Bösewichtes in seinen Wahnvorstellungen zuweist? Immer wiederkehrende gleiche Wahnvorstellungen verfestigen sich in Glaubenssätze, meine ich, irgendwo gelesen oder gehört zu haben. Das leuchtet mir ein und beunruhigt mich.

„Angeblich gehört mir ja gar nichts.“, brummte mein Sohn einmal zweifelnd, als er nach einem Psychiatrieaufenthalt in die Familie zurück kam. Wie oft kann er fälschlicherweise im Wahn glauben, mein Auto sei sein Auto, bevor es für ihn zur dauerhaften Gewissheit wird?
(Eine Angehörige)