Fremdschämen (E.A.)
Meine Freundin und ich löffeln in unseren Eisbechern. Hin und wieder wandern nicht nur unsere Blicke in Richtung eines Tisches etwas von uns entfernt. Eine Frau mittleren Alters füttert einen schwerstbehinderten, im Rollstuhl sitzenden Jugendlichen mit Spaghettieis. Mutter und Sohn vermutlich.
Auch ich errege manchmal Aufmerksamkeit, wenn ich mit meinem an Schizophrenie erkrankten Sohn unterwegs bin. Mein Sohn bittet mich, mit ihm zum Supermarkt zu fahren, um ein paar Vorräte einzukaufen. Ich seufze innerlich tief, als ich ihn mit müdem Blick und schlurfendem Gang aus der Haustüre kommen sehe: unrasiert, fettige Haare, nachlässig gekleidet. Am liebsten würde ich ihn unter die Dusche schicken, bevor wir losstarten, tue es aber nicht. Stattdessen überlege ich mir eine Ausrede und bleibe im Auto sitzen, während er ins Geschäft geht.
Ein anderes Mal lässt er sein Haar wachsen, bis kein Schnitt mehr erkennbar ist. Dazu trägt er Vollbart und lange Finger- und Fußnägel wie Struwwelpeter. Dahinter steckt eine Theorie, die er mir zu erklären versucht, die ich aber nicht nachvollziehen kann. Nein, so gehe ich nicht mit ihm ins Restaurant. Ich hole uns etwas vom Imbiss um die Ecke. Von der verrückten Idee, dass Haare und Nägel aus gesundheitlichen Gründen nicht geschnitten werden dürfen, abgesehen, wirkt er normal und ich schäme mich ein wenig dafür, dass mir sein Aussehen peinlich ist.
Mit ungelenken Gesten gibt der behinderte junge Mann seiner Mutter zu verstehen, dass sie beim Eisfüttern einen Zahn zulegen soll. Die lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und hält an ihrem Rhythmus fest, unbeeindruckt von den Quengellauten ihres Sohnes. Vielleicht deute ich das Verhalten des Sohnes aber auch völlig falsch.
Im Gegensatz zu diesem jungen Mann im Rollstuhl kann mein Sohn, der früher immer großen Wert auf sein Äußeres legte, sich grundsätzlich alleine die Haare waschen und die Fingernägel schneiden. Wenn er es in manchen Lebensphasen nicht schafft oder auf Grund einer Wahnidee unterlässt, ist für Fremde der krankhafte Hintergrund nicht unbedingt erkennbar. Ebenso wenig, wenn er mitten im Supermarkt aus nichtigem Anlass einen Tobsuchtsanfall bekommt, weil seine Frustrationsschwelle gerade krankheitsbedingt sehr niedrig ist.
In den Blicken der anderen Eisdielengäste meine ich Mitleid mit dem behinderten jungen Mann und Anerkennung für die ihn umsorgende Mutter zu erkennen. Was denken andere Menschen über uns, wenn ich mit meinem Sohn in einer seiner Krankheitsphasen unterwegs bin?
(Eine Angehörige)
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