Was sind das für Diagnosen? (T.J.)
Diagnosen gehören zur Medizin. Man teilt die Symptomatik in Gruppen ein, benennt das Ganze und hofft wenigstens ein bisschen der Realität des Patienten erfasst zu haben. Als man noch nichts über Mikroben wusste, hatte man dennoch einzelne Infektionskrankheiten richtig erkannt. Infektionskrankheiten sind oft sehr übersichtlich, weil sie von einer ganz bestimmten Mikrobe verursacht werden. Deshalb hat die Medizin hier sinnvolle Diagnosen gestellt, obwohl sie überhaupt keine Ahnung hatte, was mit den Patienten passiert.
Aber die Diagnosen waren recht nutzlos, weil man trotz zufällig sinnvoller Diagnose kaum Behandlungsoptionen hatte. Man konnte nur allgemein gesundheitsfördernde Maßnahmen ergreifen, weil man das spezifische Krankheitsgeschehen nicht verstanden hatte.
Spezifisches Eingreifen in ein Krankheitsgeschehen ist das eigentliche Ziel der medizinischen Behandlung. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Geschichte der Behandlung von Magengeschwüren. Die Diagnose Magengeschwür ist einfach zu stellen, man sieht die Geschwüre bei einer Magenspiegelung. Man wusste nicht so recht wovon man die bekommt, aber man hat festgestellt, dass sie bei viel Stress öfter auftreten.
Also hat man sie zur Zivilisationskrankheit erklärt und Maßnahmen gegen den Stress verordnet. Das ging von guten Ratschlägen bis hin zu richtig teuren Aufenthalten in Kurheimen. Man hat die Wirkung dieser Kuren auch überprüft und durchaus gewisse Erfolge nachweisen können. Trotzdem kamen die Magengeschwüre immer wieder, sobald der Stress nach der Kur wieder losging. Viele Patienten haben sogar ihren Beruf aufgegeben, weil sie hofften, so wieder gesund zu werden.
Dann hat aber ein Forscher entdeckt, dass Magengeschwüre gegen jede Erwartung von einer speziellen Art von Bakterium verursacht werden. Niemand hätte gedacht, dass Bakterien die Magensäure nicht nur überstehen, sondern in diesem Milieu auch noch aktiv sein könnten. Die Reaktionen der Kollegen waren auch zunächst, dass man diesem Forscher kein Wort geglaubt hat. Man war regelrecht entrüstet über diesen „Unsinn“ mit diesen Bakterien, hat man doch seit Jahrzehnten Magengeschwüre erfolgreich mit Antistressmaßnahmen behandelt.
Aber man hat die Sache geprüft und festgestellt, dass der Mann Recht hat. Ein paar Jahre später hat man spezielle Antibiotika entwickelt, deren Einnahme in kurzer Zeit die Bakterien und mit ihnen die Magengeschwüre nachhaltig vertreibt. Die Antistresskuren kann man sich seitdem sparen.
Wie kommt es, dass man bei der Untersuchung der Antistresskuren dennoch einen Erfolg dieser Maßnahmen gegen die Magengeschwüre nachweisen konnte? Wie bei den meisten Krankheiten fördert Stress tatsächlich den Ausbruch und die Verschlimmerung der Symptomatik. Deshalb war diese unspezifische Behandlung auch nicht völlig nutzlos im Kampf gegen die Magengeschwüre.
Man ist natürlich sowieso gut beraten, Stress zu mäßigen. Aber von einem Besuch beim Arzt erhoffe ich mir natürlich im Krankheitsfall spezifische Maßnahmen gegen mein Problem. Wenn ich mit einer Depression oder einer Psychose zum Arzt gehe, scheint es mir aber genauso zu gehen, wie früher den Patienten mit den Magengeschwüren. Spezifische Heilmittel sind nicht vorhanden. Die Antidepressiva oder die Neuroleptika, die man mir hier verordnet, verbessern nur mittelfristig die Symptome. Heilen tun die niemanden, obwohl sie dennoch als Akutversorgung hilfreich und wichtig sein können. Die begleitenden Maßnahmen wie Psychotherapie oder Ergotherapie macht man ja nicht umsonst, eben weil die zur Verfügung stehenden Medikamente nicht ausreichen.
So manch einen Kollegen, der schon zig mal in der Klinik war, konnte ich mit dem Hinweis trösten, dass man vielleicht in zehn oder zwanzig Jahren die Ursachen der psychischen Krankheiten entdeckt und mit diesem Wissen dann wirklich heilende Medikamente entwickelt. Welch ein Traum: du gehst zum Arzt mit deiner Psychose, bekommst für vierzehn Tage Medikamente und kannst danach gleich dein altes Leben wieder aufnehmen.
Dieser Traum scheint weit weg zu sein. Man versteht die Ursachen und auch den genauen Ablauf der psychischen Krankheiten nicht. Das hat zur Folge, dass auch die Diagnosen eher nur eine Einteilung willkürlicher Art sein können. Bei dem Beispiel der Infektionskrankheiten hatte man noch Glück mit den Diagnosen, schließlich ergeben krankmachende Keimstämme definierbare Krankheiten, selbst wenn man nichts über die Keime selbst weiß. Bei psychischen Krankheiten hat man dieses Glück nicht. Die einzelnen Diagnosen gehen fließend ineinander über, weil hier das extrem komplexe System Psyche arbeitet. Die vielfältigen Symptome, die die Psyche produziert, sind auch noch stark von der aktuellen Lebenssituation und von aktuellen Stimmung des Patienten abhängig.
Und dieses System Psyche selbst ist nicht verstanden. Es gibt massenhaft Theorien in der Psychologie, mit denen man zwar Therapien betreiben kann, und in leichten Fällen Klienten zufrieden stellen kann. Bei richtigen psychischen Krankheiten allerdings reicht das Verständnis nicht weit genug, hier entscheidend hilfreich zu sein. So kommt es dann, dass man mit psychischen Krankheiten wie früher bei den Magengeschwüren nur allgemein für die Gesundheit Förderliches unternehmen kann, und eine wirklich spezifische Heilung der psychischen Krankheiten nicht möglich ist.
Die meisten Psychiatriepatienten machen über die Jahre verschiedene Diagnosen durch, je nachdem wer hier diagnostiziert und wie man da gerade rüber kommt. Was sind die Diagnosen dann noch wert? Natürlich helfen die Diagnosen dem Arzt bei der Akutversorgung und bei der Erstellung von rechtswirksamen Gutachten aller Art. Dem Patienten selbst helfen die Diagnose eigentlich nur, weil sie damit kurz und knapp anderen gegenüber sagen können, welche Krankheit sie so ganz ungefähr haben.
Ansonsten sind die Diagnosen größtenteils unbrauchbar. Sie verbessern nicht das Selbstverständnis des Patienten und auch nicht das Verständnis ihrer Freunde und Angehörigen. Wenn hier überhaupt was hilft, dann sind das detaillierte Kenntnisse des menschlichen Lebens, für die man diese Diagnosen nicht braucht. Die Ärzte sollten wissen, dass ihre Diagnosen nur grobe Schubladen sind, die wenig mit der Realität ihrer Patienten zu tun haben.
Die Rechtswirksamkeit der psychiatrischen Diagnosen erscheinen mir hier als Rechtsbeugung. Die Ärzte wissen und verstehen einfach zu wenig, als dass sie hinreichend sicher Fremdgefährdung, Eigengefährdung oder Arbeitsfähigkeit beurteilen könnten. Die Justiz scheint das nicht zu stören, sie will ihre Fälle erledigen und gibt diese Gutachten in Auftrag, auch wenn sie weiß, dass die wenig wert sind. Der Gutachter macht munter mit und tut so, als würde er das Thema beherrschen, obwohl er keine Ahnung hat, wie sein Patient in drei Monaten drauf sein wird. Oft kann er noch nicht einmal die aktuelle Lage einschätzen, pickt sich ein paar Symptome heraus und strickt daraus etwas zusammen.
Geld und Macht sind hier wohl zu verlockend, als dass der Psychiater ehrlich mit seinem Ausmaß an Unwissenheit umgehen würde und in sein Gutachten z.B. einfach schreibt:
„Der Proband ist recht verwirrt und zur Zeit eher überaktiv drauf, aber ich weiß nicht genau wie sich das in 2 Wochen entwickeln wird. Ich weiß auch nicht wirklich, was ich mit dem Probanden jetzt machen soll. Ich probier erst einmal Haldol, dann wird er auf jeden Fall ruhiger und damit für uns umgänglicher, hoffe ich zumindest. Kann auch sein, dass er davon erst einmal noch verwirrter wird, und sich das Problem noch verschärft. Deshalb muss er noch weiter hier festgesetzt bleiben, damit wir in Ruhe beobachten und unsere wenigen Optionen durchtesten können. Außerdem will ihn in seinem derzeitigen Zustand zuhause ohnehin noch keiner wiederhaben.“
(Tobias Jeckenburger)
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