www.introspektiva.de - Tobias Jeckenburger: Die Reise des Kosmos - Online-Diskussion - KLuW e.V.: Die Wirklichkeit psychischer Krankheiten

Zahlen sind keine Aussage (M.P.)

Die vergleichende Psychiatrie kann zeigen, dass das Auftreten bestimmter psychischer Krankheitsformen und -symptome keine Naturtatsache ist, sondern spezifisch gesellschaftliche Bedingungen verlangt: Sozialisationsformen, die von wirtschaftlichen Notwendigkeiten, kulturellen Leitbildern und sozialtypischen und charakterlichen Einstellungen der Erziehungspersonen abhängen, bringen Krankheitsdispositionen hervor; diese bevorzugen zu ihrer Manifestation wiederum bestimmte gesellschaftliche Konstellationen, die es im Einzelnen zu analysieren gilt...... (1)
Als mir die Frage gestellt wurde, ob es seriöse Statistiken zur weltweiten Häufigkeit von Psychosen gebe, musste ich erst einmal stutzen: Gibt es Studien, die eine seriöse Zahl bestimmter Krankheiten abbilden können? Woher sollen diese Zahlen stammen? Wer erfasst sie? Und zuletzt: Geht es hier nicht um einen Vergleich unserer Lebensbedingungen mit denen von Menschen anderer Länder und kultureller Herkunft? Um Zahlen quantitativer Studien miteinander vergleichen zu können, müssen erst einmal vergleichbare Bedingungen bei der Erhebung gegeben sein – dazu gehören vergleichbare Lebensbedingungen, eine vergleichbare Infrastruktur, die zu erhebenden Personen müssen gleichgut ausgebildet sein und der Gegenstand um den es geht muss hier, wie am anderen Ende der Welt das Gleiche ausdrücken.

Die Vergleichbarkeit psychischer Erkrankungen – in diesem Fall eine Psychose – fällt hierzulande schon gar nicht so leicht. Dass der Psychiater aus Krankenhaus A die Erkrankung anders diagnostiziert als der Psychiater in Krankenhaus B, ist für viele Betroffene und Professionelle sicher keine Mär. Außerdem halte ich es für schwierig, einen Zustand, den wir hierzulande als Erkrankung titeln, als universales klinisches Konzept zu übertragen. Wer sagt denn, dass mit Psychosen vergleichbare Zustände in anderen Kulturen überhaupt als Erkrankung angesehen werden müssen? So ist es zum Beispiel die Vision eines Medizinmanns, die für das Dorf eine starke Bedeutung hat. Oder der Dschinn, der in der Wasserleitung wohnt und nach islamischem Glauben nur von einem Heiler vertrieben werden kann. Hier würden diese Menschen sicherlich als ‚psychotisch‘ oder ‚verrückt‘ angesehen werden, in ihrer Kultur sind diese Äußerungen weniger diskreditierend, da nicht von Erkrankung die Rede ist. Medizinisch-psychiatrische Konzepte würden so zu einer Pathologisierung von Zuständen beitragen, die vorher nicht als leidvoll erlebt wurden. So würde man den betroffenen Menschen den sprichwörtlichen Boden unter den Füßen wegziehen. Dabei macht es natürlich einen Unterschied, wenn die Erkrankung als selbstverschuldet erlebt oder von ‚außen‘ an herangetragen wird. Im letzteren Fall wird sie sicher eher als Entfremdung und damit als Bedrohung erlebt, denn der Betroffene ist sich seiner Krankheit nicht bewusst. Die Bedeutung, die innerhalb einer Kultur um eine bestimmte Situation oder um Personen geschaffen wird, ist streng mit der geistigen Entwicklung der Menschen eben jener Kultur verwoben. Vergleichbar ist dies mit dem schlechten Gewissen eines gläubigen Christen vor Gott oder der Euphorie, wenn die eigene Fußballmannschaft gewonnen hat. Es gehört einfach dazu, das Verständnis darüber macht für uns in der Regel Sinn.

Wie kann dann ein Zustand als Erkrankung definiert werden, der gar nicht als leidvoller Zustand oder gar als Erkrankung wahrgenommen wird? Dazu müsste ein fremdes Bedeutungssystem auf die Bevölkerung eines Kulturkreises übertragen werden. Dass es sich hierbei um das westlich-medizinische Paradigma handelt, das universale Gültigkeit beansprucht, ist sicher kein Geheimnis. Natürlich sollen hier nicht die Fortschritte in der medizinischen Versorgung relativiert werden, diese sind ohne Weiteres zu erkennen, viele Menschen profitieren davon. Hier soll es lediglich um das Konzept der psychischen Erkrankungen gehen, das als solches selbst in Ländern, in denen es seit Jahrzehnten erprobt wird, keine Gültigkeit zu besitzen scheint. Gemeint ist, dass Krankheitsursachen und Behandlungsmethoden noch lange keinen gemeinsamen Standard, wie etwa bei somatischen Erkrankungen, verfolgen. Fachleute vertreten unterschiedliche Positionen, die sich auch in der Versorgung ausdrücken. Einfache Beispiele machen dies klar. Die Frage, wann eine Krankheit eine Krankheit ist, ist daher nicht so leicht zu beantworten. (2) Zwar kann ein Zustand durch ein strenges wissenschaftliches System mittels deduktiver Einschätzung als Krankheit bewertet werden, doch muss die betroffene Person ihren Zustand noch lange nicht als krank empfinden. Das wissenschaftliche System erhält seine Gültigkeit, wenn es institutionell gestützt wird, etwa durch ein Krankenhaus oder durch das Gesundheitssystem. Dann können sich Maßnahmen eng an die institutionellen Vorgaben halten. Die betroffene Person hätte keine andere Möglichkeit, als das System und damit ihre Erkrankung anzuerkennen.
Diese gesellschaftliche Zerstörung einer bestimmten Form der Identität führt zu einer extremen Abhängigkeit von sozialen Verhaltensmustern, zu einem Übergewicht der sozialen gegenüber der persönlichen Identität. Die Angst weder innerhalb einer zugewiesenen Rolle noch beim Rollenwandel fungibel (3) zu sein, wird zu einem bestimmenden Faktor sozialen Umgangs. (4)
Hier gehen wir aber von einem Idealfall aus. Ein wohlhabendes Land etabliert eine Versorgungsstruktur, in welchem Versorgungskonzepte, etabliert durch die dominierenden wissenschaftlichen Paradigmen, umgesetzt werden könnten. Diese Strukturen sind aber nicht in jedem Land anzutreffen. So zum Beispiel in Ländern, in denen Krieg herrscht. Hier hat wohl die Versorgung der Kriegsgeschädigten Vorrang. Arme Länder oder Länder, die ihre Struktur aus ideologischen Gründen nicht umstellen wollen, sind ebenso ausgenommen aus einer vergleichbaren Versorgungsstruktur. Die Gründe, warum sich Psychiatrie nicht etabliert hat, seien dahingestellt. Vielmehr geht es darum zu erläutern, dass die Infrastruktur des Versorgungssystems eines Ladens und die generelle Verbreitung solcher Konzepte in der Bevölkerung entscheidend ist, um Erkrankungen zu erkennen. Nicht zuletzt trägt die Infrastruktur zur Verbreitung der Konzepte bei. Zum einen fühlen sich die Menschen ‚nicht angesprochen‘, wenn ihnen das Konzept ‚ihrer Erkrankung‘ nicht bekannt ist. Das heißt, warum sollten sie ein Krankenhaus dafür aufsuchen? Zum anderen stellt sich die Frage, ob Krankenhäuser erreichbar sind, ob alle versorgt werden könnten und ob die Konzepte, so umgesetzt werden können, wie es etwa ein Krankenhaus in Deutschland oder den USA macht. Auch hier gilt natürlich die Prämisse: Das Angebot schafft die Nachfrage. Gibt es kein Angebot, werden die Menschen auch weniger ein Krankenhaus aufsuchen. So stieß etwa eine Studie des Schweizer Gesundheitsobservatorium auf das Phänomen, dass es mehr psychische Erkrankungen in Regionen gibt in denen die Versorgungsstruktur dichter ist. (5) Zusammenfassend heißt das, wer sich nicht krank fühlt, geht nicht zum Arzt. Wenn kein Arzt in der Nähe ist, steigt die Hemmschwelle einen aufzusuchen. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass die Zahlen über mögliche Psychosen je nach Krankheitskonzept und Versorgungsangebot (zwangsweise) variieren. Nicht zuletzt ist die Stigma-Intensität einer Erkrankung ein Faktor Hilfe aufzusuchen oder die Erkrankung gar als solche anzuerkennen. Die Intensität unterscheidet sich ebenso von Kultur zu Kultur und von Erkrankung zu Erkrankung. (6)

Ein zusätzlicher Aspekt, der hinzukommt, ist die Ausbildung derer, die entscheiden wann eine Psychose vorliegt und wann nicht und damit eine quantifizierte Messung überhaupt möglich machen. Die Einschätzung oder Diagnostizierung muss über Ärzte mit einem vergleichbaren Ausbildungsstandard erfolgen. Doch können Standards in der Psychiatrie überhaupt vermittelt werden? Die Antwort lautet natürlich: nein. Die Auszubildenden sind selber Teil ihres Kulturkreises, selber überzeugt von bestimmten Vorstellungen ihrer Kultur. Sie nehmen Phänomene wahrscheinlich anders wahr, als Ärzte hierzulande. Sie geben gewissen Ereignissen eine höhere Bedeutung als anderen. Für psychische Erkrankungen gibt es keine objektiven Kriterien. (6) Die Einschätzung und Bewertung einer Erkrankung hängt mit der subjektiven Sichtweise des Arztes zusammen. Er kann sich noch so sehr anstrengen, seine Entscheidung unterliegt seinen Werten, Normen und nicht zuletzt seinen emotionalen Einstellungen. So können keine vergleichbaren Zahlen geschaffen werden.
Charakteristisch für die Wechselwirkung von Psychiater und Patient ist es, dass die Rolle des Patienten sehr seltsam anmutet, wenn man sie (bei der klinischen Beschreibung) aus dem Zusammenhang reißt. Die Rolle des Psychiaters jedoch wird geradezu als Prüfstein für unsere auf dem ‚gesunden Menschenverstand’ beruhende Ansicht was Normalität bedeutet. (7)
Zum Schluss möchte ich festhalten, dass Zahlen hier keine Aussage über die Qualität einer Erkrankung machen. Vielmehr ist es essentiell zu überlegen, wie Menschen einen leidvollen Zustand innerhalb ihrer Umwelt erleben und wie ihnen geholfen werden kann. Natürlich stellt sich dabei die Frage, ob sie überhaupt Hilfe in Anspruch nehmen möchten. Es schafft kein Verständnis und keine Empathie, wenn Zahlen gesammelt werden. Entscheidender ist eine kultursensible Einstellung, die das Mensch-werden mit all seinen Facetten in den Blick nimmt und Erkrankung in ihren kulturellen Zusammenhängen erforscht. Jeder, der sich kritisch mit den Aspekten psychischer Erkrankung befasst, kommt an einer Auseinandersetzung mit ihren Ursachen nicht vorbei. Zahlen greifen zu kurz, um sie als Kritik anzuführen, zumal sie, und das sollte aus diesem Text deutlich werden, keine Aussage oder gar eine falsche über eine Problematik treffen. Zahlen schaffen keine Fakten, die täuschen vielmehr über die Komplexität des Phänomens psychischer Erkrankung hinweg. Im schlimmsten Fall festigen sie falsche Aussagen und oberflächliche Überzeugungen.

09.04.2018 Matthias Pauge (Heilerziehungspfleger und Sozialwissenschaftler)

Quellen

(1) Wulff, E. (1972). Psychiatrie und Klassengesellschaft. Zur Begriffs- und Sozialkritik der Psychiatrie und Medizin. Frankfurt a. M.: Fischer Athenäum.

(2) Heinz, A. (2015). Der Begriff der psychischen Krankheit, 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

(3) fungibel heißt auch flexibel

(4) Horn, K. (1989). Politische Psychologie. Schriften zur kritischen Theorie des Subjekts, Band 1. Gießen: Psychosozial.a

(5) https://www.obsan.admin.ch/sites/default/files/publications/2015/obsan_dossier_13.pdf

(6) Kleinman, A. (1991). Rethinking Psychiatry. From Cultural Category to Personal.

(7) Laing, R.D. (1973). Phänomenologie der Erfahrung, 6. Aufl.. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.