www.introspektiva.de - Tobias Jeckenburger: Die Reise des Kosmos - Online-Diskussion - KLuW e.V.: Die Wirklichkeit psychischer Krankheiten

Der Zweck heiligt die Mittel? (E.A.)


Wir leben wieder einmal in verschiedenen Realitäten. Ich bin besorgt, halte mich mit meinen Äußerungen zurück, um die Stimmung nicht anzuheizen, nicht zu provozieren. Mein Sohn dagegen ist diskutierfreudig bis missionarisch was seine Ansichten betrifft. Irgendwann ist es soweit, eine Auseinandersetzung lässt sich nicht mehr umschiffen. Ich fühle mich bedroht und rufe die Polizei.

Die Polizisten empfehlen meinem laut und wirr argumentierenden Sohn einen Klinikaufenthalt und bieten an, einen Krankenwagen zu rufen. Mein Sohn ist damit einverstanden, in der Psychiatrie vorstellig zu werden, unter der Auflage, dass auch ich, seine Mutter, mich einer Begutachtung unterziehe. Dann würde sich sehr schnell zeigen, dass ich die Verrückte bin, frohlockt er.

Die Ärztin in der Aufnahme spricht zunächst mit meinem Sohn und hört sich dann meinen, ständig durch ihn unterbrochenen Bericht, an. Dass sie sich mit meiner Weltsicht solidarisch erklärt und ihm die Aufnahme zur Behandlung vorschlägt, gefällt meinem Sohn überhaupt nicht. Seine Stimme wird lauter, der Tonfall aggressiv. Als er im Redeschwall wütend vom Stuhl aufspringt, nutzt die Ärztin die Gelegenheit. Zwei herbeigerufene kräftige Pfleger stürzen sich auf meinen Sohn, der sich ohne nennenswerte Gegenwehr auf eine Trage verfrachten lässt und auf dieser eilig von den Helfern fortgeschoben wird.

Ich stehe der Entwicklung ambivalent gegenüber. Einerseits kommt mir der Zugriff überzogen vor, da mein Sohn sich gleich nach Auftauchen des pflegerischen Einsatzkommandos wieder unter Kontrolle und so etwas wie „ist schon OK“ gebrummelt hatte. Andererseits bin ich froh und voller Hoffnung, er würde zumindest die nächsten Tage in der Klinik bleiben und in einem für mich erträglichen Zustand zurückkehren.

Als ich zwei Tage später auf der geschlossenen Station eintreffe, wird mir von einem Besuch abgeraten. Mein Sohn hätte nachts auf dem Flur einen Pfleger angegriffen und ihn gewürgt. Er wäre fixiert, was kein schöner Anblick sei, den ich mir besser ersparen solle. Ich bin erschrocken und einen Moment lang ratlos, mache mich dann aber auf den Heimweg, ohne meinen Sohn gesehen zu haben.

Den Rest des Tages verbringe ich mit Grübeln. War es richtig, einfach zu gehen? Oder habe ich meinen Sohn im Stich gelassen? Dass er jemanden gewürgt haben soll, ist für mich schwer vorstellbar. Ich habe ihn öfters verbal ausflippen erlebt und war auch dabei, als er in einer Psychose auf jemanden los ging, rufe ich mir ins Gedächtnis. Aber so wie zwei Tage zuvor in der Klinikaufnahme beruhigte er sich auch schnell wieder. Hatte das Personal provozierend etwas nachgeholfen und damit die Möglichkeit geschaffen, ihn da behalten zu können?

Ich bin erleichtert, dass mein Sohn in der Klinik ist. Das verschafft mir eine Verschnaufpause. Gut schlafen kann ich allerdings nicht. Im Traum bin ich diejenige, die fixiert wird. Ein Albtraum! Und ich habe daran mitgewirkt, dass dieser Albtraum meinem Sohn widerfährt.
(Eine Angehörige)